Jenny und Johnny - Liebe ohne Grenzen von Andreas Schwedt

Cover Jenny und Johnny

Leseprobe Jenny und Johnny - Liebe ohne Grenzen

Andreas Schwedt

ISBN: 978-3-96174-089-5 9783961740895

VK: 12,95 € Paperback, Format 14,8 x 21 cm, 300 Seiten Edition Paashaas Verlag, www.verlag-epv.de

Es war nicht so, dass alle Sorgen um Johnny ausgestanden waren, als seine Eltern nach ein paar Tagen gemerkt hatten, dass er die folgende Zeit in der Tagesstätte verbringen konnte. Der Junge hatte genau das getan, wofür die Einrichtung konzipiert war, er hatte sich integriert. Und bedachte man, dass dies trotz der Konzeption unter den immerhin noch zahlreichen gesunden Kindern keineswegs so unproblematisch hätte sein können, so hatte es der kleine dreijährige Mensch doch mit Bravour gemeistert, sich unter den Gleichaltrigen zurecht zu finden. Sicher, in den folgenden Wochen und Monaten hatte er die gesamte Zeit natürlich nicht immer in völliger Harmonie verbracht. Das war allein schon dem ganz natürlichen Umgang mit seinesgleichen geschuldet gewesen. Kleinkinder waren nun einmal kleine Kinder, die zum größten Teil impulsiv, unberechenbar und nicht mit Nachdenken beschäftigt waren. Selbstverständlich war es auch hin und wieder mal zu Spannungen und Reibereien gekommen. Dann war es an Frau Sölden, der Leiterin der Einrichtung und zugleich einer der Erzieherinnen, gewesen, das Schiff, das sich Früherziehung nannte, mit ihrem umsichtigen Einfühlungsvermögen für Kinder wieder auf Kurs zu bringen. Diese Aufgabe war bei der gemischten Gruppe mit all ihren großen und kleinen Unterschieden nicht immer einfach gewesen. Dennoch war es der Erzieherin dennoch immer wieder gelungen, die Truppe im Gleichgewicht zu halten oder sie im schlimmsten Fall wieder schnell dorthin zu bringen, hatte sich der Kahn doch einmal in Schieflage geneigt. Johnny hatte seine Zeit unter den Kindern so verbracht, wie sie jedes andere Kind auch ohne Behinderung unter Gleichaltrigen verbracht hätte. Dies war aber auch Zweck und Ziel der Gruppe. Da die kleinen Erdenbürger es gar nicht anders gekannt hatten, als ihre Zeit mit behinderten und nicht behinderten Kindern zu gestalten, hatte sich eben deshalb auch keiner von ihnen darüber störende Gedanken gemacht. Johnny hatte seine Zeit beim Spielen mit den anderen Kindern voll ausgekostet. Dass er als einziges Kind mit dem Down-Syndrom unter ihnen geistig etwas langsamer war, hatten die anderen Kinder gar nicht wahrgenommen. Soweit es die Erwachsenen hatten beurteilen können, war man mit seiner Entwicklung unter Berücksichtigung seiner Behinderung bis jetzt zufrieden gewesen. Ja, er hatte die anderen Kinder alle gern wie sie ihn auch, und sie waren ihm bis heute gute Spielkameraden. Doch es war von Anfang an unverkennbar gewesen, dass Johnny seine Zeit mit einem Kind am liebsten und am meisten verbrachte: Jenny. Wie es weitergehen sollte, war eine jener Fragen, die Astrid trotz der guten Integration ihres Jungen über die nächsten Monate, schließlich Jahre, in denen er die Tagesstätte besuchte, beschäftigte. Die sichere Abgeschiedenheit der Einrichtung war schön und gut, die Welt außerhalb der sicheren Käseglocke würde für Johnny aber anders aussehen. Die Sorgen um seine Zukunft hatten ihr in der Zeit, in der er noch in der sicheren Obhut war, immer wieder zugesetzt. Nicht zuletzt, weil sie nie gewollt hatte, dass ihr Kind später mit dem Geld so sehr rechnen musste wie Holger und sie. Aus Gesprächen mit ihrem Mann hatte sie gewusst, dass ihn hin und wieder zwar auch solche Gedanken beschlichen, er diese aber beiseiteschob und im Gegensatz zu ihr immer noch an eine gute Zukunft für ihr Kind geglaubt hatte, bis heute. Und sie hatte bei den Unterhaltungen mit ihm spüren können, dass dieses Beiseiteschieben kein Verdrängen war, sondern von dem tatsächlichen Glauben an ein glückliches Leben ihres Jungenbestimmt wurde. Diesen Glauben hatte sie, seit sie die Diagnose ihres Jungen erfahren hatte, aufgegeben und war auch dazu in den Jahren nie wiedergekehrt. Sicher, ein gutes Leben definierte sich aus den unterschiedlichsten Bestandteilen einer menschlichen Existenz. Das hatte ihr Holger ja schon gleich nach der schockierenden Diagnose zu vermitteln versucht. Dennoch hatte sich Astrid nicht von dem allgemeinen gültigen Bild eines erfüllten Lebens trennen können. Sie hatte wie fast alle Mütter nur das Beste für ihr Kind gewollt. Doch das Beste in ihrem Sinne war für Johnny so unerreichbar, dass sie eben nicht daran hatte glauben können. Einen guten Job, ein gesichertes Einkommen, eine glückliche Familie – alle diese Wünsche waren völlig utopisch: Ihr Kind war und blieb geistig behindert. Sein Ansehen war damit ein für alle Male besiegelt. Ein Siegel, das ihr Junge nie würde aufbrechen können, wie sehr er sich auch anstrengen mochte. Nicht, dass er vielleicht trotz seines offensichtlich behinderten Aussehens doch gegen so manches Vorurteil ankommen würde … In seiner geistigen Leistungsfähigkeit würde er aber niemals an das Niveau eines durchschnittlichen Mannes heranreichen. Natürlich, es gab in der Geschichte auch Beispiele, da wuchsen Menschen mit solch einer Behinderung über sich hinaus. Darauf zu hoffen hatte sich Astrid aber genauso verboten, als sich darauf zu verlassen, am nächsten Samstag den berühmten Sechser im Lotto zu haben. Trotz alledem sollte es an ihr nicht liegen. So gut und so lange sie nur konnte, wollte sie sich um Johnny kümmern und ihn nach all ihren Kräften in ein für ihn erträgliches Leben begleiten. Darum hatte sie sich auch entschieden, sich nach Johnnys Annahme in der Kindertagesstätte nicht um Arbeit zu bemühen. Sie hatte gespürt, dass ihr Kind sie brauchte, und wollte darum in jeder nur erdenklichen Minute für ihn da sein. Das hatte sie getan: Sei es, wenn sie ihn zur Betreuung fortgebracht hatte, ihn abgeholt, zuhause um ihn herum gewesen war oder ihm beim Spielen am Rande des Sandkastens zugesehen hatte. Sie hatte gewusst, ihre Gesellschaft wurde ihm nicht zu viel, und er liebte sie. Große Sympathie hatte er auch den anderen Kindern gegenüber gezeigt. Frau Sölden hatte ihr jedes Mal, wenn sie diese getroffen hatte, bestätigt, dass Jonny allen gegenüber ein sehr fröhliches und freundliches Gemüt hatte und sein Sozialverhalten geradezu vorbildlich war. Wenn dies auch kennzeichnend für Menschen mit einem Down-Syndrom war, so hatte Astrid daran glauben wollen, dass ihr Sohn von Grund auf ein emphatisches Wesen hatte. Wie weit ihm das im weiteren Leben helfen würde, hatte sie nicht zu sagen vermocht. Und obwohl sie froh war, dass Johnny gerade seinen Platz im Leben gefunden hatte, hatten die Gedanken an ihr gezerrt, dass er diesen bald verlieren und sich einen neuen würde suchen müssen. Wo er nach noch etlichen Suchen einmal ankommen würde, war ihr auch heute noch völlig schleierhaft. Eine Vorahnung von den Schwierigkeiten in der Welt außerhalb der Kindertagesstätte hatte ihr regelmäßig Klaus vermittelt. Der Vater von Jenny hatte regelmäßig abfällige Blicke zu Johnny geworfen, hatte er einmal, was Gott sei Dank selten vorkam, die Zeit gefunden, seine Frau Nicole zum Spielplatz zu begleiten. Sicher, damals nach der ersten unschönen Begegnung im Sandkasten, hatten sie sich zwangsläufig öfter gesehen. Auch Astrids Mann Holger hatte die beiden schließlich kennengelernt. Wie es Astrid schien, hatte er durch eine rosarote Brille gesehen, denn gleich zu Anfang hatte er Worte über einen freundschaftlichen Kontakt verloren, der jedoch nie Wirklichkeit geworden war. Außer dem gegenseitigen Angebot, sich zu duzen, und ein paar Floskeln hatten sie in den nunmehr drei Jahren keine weiteren Worte miteinander gewechselt. Astrid hatte aber schnell gemerkt, dass Klaus der Umgang seiner Tochter mit Johnny unangenehm war. Doch er hatte sich inzwischen schon etliche Jahre daran gewöhnen müssen, denn schließlich waren es inzwischen schon rund drei an der Zahl, in denen seine gesunde Tochter und der behinderte Junge mit dem schiefen Gesicht ein Herz und eine Seele waren. Gerne hätte sie sich einmal mit Klaus über seine Ansichten und seine Motivation, seine Tochter in diese Einrichtung gehen zu lassen, ausgetauscht. Eine Gelegenheit hatte sich bisher aber noch nicht ergeben, da Klaus stets die Distanz gewahrt hatte. Nicole hingegen schien ganz ohne Vorbehalte gegenüber ihrem Sohn zu sein. Aber auch hier mangelte es an ausführlichen Gesprächen. Und so hatte sich zwischen Jennys und Johnnys Eltern über die Jahre hinweg eine Distanz aufgebaut, die nicht gerade darauf zu warten schien, ins Gegenteil gekehrt zu werden. Sie lebten in einer Welt, in der sich die Kinder nun einmal näher waren als die Erwachsenen. Doch letztendlich durften Nicole und Holger als Eltern von Johnny die abwertenden Blicke und die Distanziertheit von Außenstehenden nicht stören, nahm er davon nicht seelischen oder körperlichen Schaden. Es ging nur darum, dass er sich eben gerade trotz aller Widrigkeiten in der Welt zurechtfand. Die nächste Herausforderung dazu lag direkt vor ihm. Die Zeit in der Kindertagesstätte neigte sich dem Ende entgegen, die Einschulung in eine Grundschule stand bevor, und alle Eltern der Kinder mussten zu einem Entschluss gelangen, wie es mit ihren Sprösslingen weitergehen sollte. So hatten sich auch Johnnys Eltern überlegen müssen, wo der nächste Platz für ihn sein sollte. Natürlich hatten sich Astrid und Holger schon seit einiger Zeit unter den anderen Eltern umgehört, Klaus und Nicole aus besagter Antipathie jedoch ausgespart. Da außer Johnny die anderen Kinder entweder völlig gesund waren oder aber keine geistige, sondern eine körperliche Behinderung hatten, wollten sie es mit ihren Sprösslingen auf einer herkömmlichen Schule versuchen. Die Eltern der gesunden Kinder hatten dabei eine große Auswahl, die der körperlich eingeschränkten wollten natürlich Schulen wählen, die behindertengerecht hergerichtet waren. Bei Johnny war die Entscheidung freilich etwas komplizierter gewesen.

Andreas

Einerseits war klar gewesen, dass ihr Kind eine spezielle, weiterführende Förderung brauchte. Andererseits war überhaupt nicht abzusehen gewesen, in welchem Maße diese erfolgen musste. Astrid und Holger hatte die Angst beschlichen, dass Johnny in einer reinen Sonderschule hinter seinen Möglichkeiten zurückbleiben würde. Darum hatten sie vor einigen Tagen, als dieser Schritt fällig war, diesen auch getan und eine Entscheidung getroffen. Eine vergleichbare Entscheidung hatten Jennys Eltern nicht treffen müssen. Jenny war es in den vergangenen drei Jahren prächtig ergangen, sie hatte viel gespielt, war in ihrem Wesen aufgeblüht und bei jedermann beliebt. Oftmals jedoch war es Klaus bei seinen spärlichen Besuchen der Einrichtung innerlich im Gegensatz zu seiner aufgeweckten Tochter schlecht ergangen. Dass er sie ständig mit diesem Johnny, dem behinderten Kind mit dem Down-Syndrom, zusammen gesehen hatte, hatte ihm jedes Mal einen Stich versetzt. Natürlich, er hatte sie nicht einfach von dem Jungen wegziehen und die beiden trennen können. Aber all die Zeit hindurch hatte es ihm wehgetan, sie mit ihm zusammen zu sehen. Er war nicht der Umgang, den er sich für sie erhofft hatte. Wenn er sich darüber bei Nicole beklagt und sie darauf hingewiesen hatte, dass selbst schon in jüngsten Jahren die Anlagen für ein späteres Leben gelegt würden, ihr erklärt hatte, dass ihre Tochter schon jetzt besser die Welt der Gesunden anstatt der Kranken verstehen sollte, hatte diese damit gekontert, dass Jenny dies viel besser könne, wenn sie die Kranken kannte und dass ja wohl nichts dagegen spräche, wenn eine knapp Sechsjährige Kontakt mit einem ebenso alten Jungen hätte, der ein kleines geistiges Defizit aufweisen würde. Für Klaus hatte es dies auf jeden Fall getan, jedoch hatte er auch gewusst, dass sich eine Diskussion darüber mit seiner Frau erübrigte, denn sie war eine starke Persönlichkeit, die fest hinter ihren Ansichten stand und sich nicht verbiegen ließ. So hatte sich beim Anblick seiner Tochter mit dem Jungen sein Magen weiterhin zusammengezogen, aber er hatte nun einmal nichts dagegen tun können. Jetzt aber war er froh, dass sich diese Problematik von selbst lösen würde, denn für Jenny ging die Zeit in der Kindertagesstätte ihrem Ende entgegen. Ihre Einschulung würde ein erster Sprung in das wahre Leben sein. Natürlich war es für den behinderten Jungen traurig, dass er eine Sonderschule würde besuchen müssen, aber Klaus wusste schließlich, dass er auch nicht die ganze Welt retten konnte. Jetzt war es einzig und allein um sein Liebstes, seine Tochter, gegangen. Und für die hatte er sich im Vorfeld schon reichlich erkundigt. Zunächst hatte er Nicole wie schon vor Jahren einige Privatschulen nahebringen wollen. Doch die Position seiner Frau hatte nach wie vor festgestanden. Ihre Tochter sollte keine Sonderbehandlung bekommen, sondern ganz normal aufwachsen. Also hatte er nach den am besten von Kindern sowie Erwachsenen beurteilten Grundschulen tagelang das Internet, aber auch seine weitreichenden Bekanntschaften in seinen Lehrerkreisen befragt und Nicole dann ein Ranking der am besten abschneidenden Schulen vorgelegt. Sie hatte es zunächst mit Kopfschütteln und Augenrollen quittiert, ihm aber eine Genugtuung verschafft, als sie sich dann doch damit anfreundete, dass eine gewisse qualitative Auswahl nicht schaden konnte. So hatten sie sich endlich für ihre Tochter für die Schule auf Platz zwei entschieden. Zwar hatte Klaus zu eins tendiert, Nicole hatte ihm aber vehement widersprochen, da sie gewusst hatte, dass diese der Sohn eines befreundeten Schuldirektors von Klaus besuchte, den sie aber nicht ausstehen konnte, weil er die Überheblichkeit in Person war, vor der sie ihren Mann ständig bewahren wollte. Diese Überheblichkeit hatte bestimmt auch auf den Sohn abgefärbt. Das wäre ihrer Ansicht nach der falsche Umgang für ihre Tochter gewesen. Wie dem aber auch sei, mit der Wahl der zweiten Schule auf der Liste hatten sie beide leben können. Heute nach dem Abendessen war der freudige Moment gekommen, dass sie ihrer Tochter mitteilen wollten, wohin ihr nächster Lebensabschnitt führen sollte. Sie riefen sie zu sich, und Jenny merkte an der Feierlichkeit, die über ihren Gesichtern und ganz besonders über dem ihres Vaters lag, dass es eine wichtige Neuigkeit gab. „Jenny“, begann Klaus vorsichtig, als er seine Tochter gebeten hatte, sich auf die Couch zwischen ihm und seiner Frau zu setzen. Sie sah ihn an. „Bald wirst du sechs Jahre alt, und etwas ganz Besonderes wird dann passieren.“ Jenny hörte gespannt zu. Wenn ihre Eltern ihr Alter erwähnten, hatten sie ihr immer irgendetwas Besonderes mitzuteilen. Entweder sie ermahnten sie dann ernstlich oder ermutigten sie, ihrem Alter entsprechend zu handeln. Es war noch gar nicht lange her, da hatte sie dies erlebt: „Jenny: Mit fünf Jahren kannst du ordentlich mit Messer und Gabel essen“, hatte sie da ihre Mutter an einem Samstag am Mittagstisch ermahnt. „Kind, mit fünf kannst du dir ruhig selbst die Flasche aufschrauben und eingießen“, ermunterte sie ein anderes Mal ihr Vater. Doch trotz der besonderen Nachricht, die sie erwartete, lag noch irgendetwas in der Luft, das sie nicht zu beschreiben vermocht hätte. Es schien etwas weitaus Bedeutsameres zu sein, als sie zu ermahnen, vernünftig zu essen oder sich selbst an einer Flasche Saft zu bedienen. Als ihr Vater ihr dann endlich offenbarte, worum es ging, wusste sie nicht so recht, was sie davon halten sollte. „Nun, du wirst eingeschult“, durchbrach ihr Vater endlich ein paar Sekunden nach seiner Ankündigung der Nachricht die Stille. Natürlich hatte sie schon öfter gehört, dass dieser Tag kommen würde, und auch, was er bedeutete. Ihre Eltern hatten sie lange genug darauf vorbereitet. Man musste in die Schule, um etwas fürs Leben zu lernen, um darin zurecht zu kommen, wie es ihr ihr Vater einmal zu erklären versucht hatte. Hätte er geahnt, wie sehr sich seine Tochter schon mit dem Thema auseinandergesetzt hatte, wäre er vermutlich anders in das Gespräch eingestiegen. So ging er es ganz unbedarft an und sollte sich wenige Augenblicke später umso mehr wundern, ja, sich sogar entsetzen, wie sich dieses entwickeln würde. Jenny sah von ihrem Vater zu ihrer Mutter, und ein strahlendes Lächeln hatte sich über ihr Gesicht gebreitet. Nicole nickte ihrer Tochter aufmunternd zu. Diese schaute wieder ihren Vater an. Auch er nickte ihr zu und war innerlich froh, dass sie diese Nachricht offensichtlich so positiv aufnahm. Dennoch erwarteten die Eltern gespannt die Reaktion ihrer Tochter. „Freu mich drauf“, sagte Jenny endlich, und ein zufriedenes Lächeln spielte um die Mundwinkel ihrer Eltern. „Wir möchten dich gerne in der Ottilie-Hinkelberg-Schule anmelden“, sagte Klaus. „Die ist auch gar nicht weit von unserem Zuhause entfernt.“ Jenny dachte einen Moment nach, ehe sie ihre Eltern mit ihrer nächsten Aussage stark irritierte: „Aber da geht doch Johnny nicht hin. Der geht zu einer Schule, die so einen Opanamen hat.“ Verständnislos blickten sich Klaus und Nicole an. „Aber Jenny, Johnny wird sicher auf eine spezielle Schule gehen. Weil er doch nicht so gesund im Kopf ist wie du“, fand Nicole als erste die Sprache wieder. Ihre Tochter legte die Stirn in Falten. „Ist keine Spezialschule, hat er immer gesagt. Da braucht er nicht hin, nur weil er ein bisschen langsamer im Kopf ist als ich.“ „Ich denke schon, dass er die brauchen wird“, schaltete sich jetzt Klaus ein, und man konnte an seiner Stimmlage merken, dass er dieses Gespräch nicht in eine Richtung gleiten lassen wollte, die anstrengende Diskussionen heraufbeschwörte. Doch da hatte er nun einmal die Rechnung ohne seine kleine Tochter gemacht. „Nein, Johnny geht in eine normale Schule“, widersprach Jenny erneut. Auf der Stirn von Klaus zeichneten sich die ersten Sorgenfalten ab. „Wie dem auch sei“, versuchte er nun das Ganze abzukürzen, „die Ottilie-Hinkelberg-Schule wird ein guter Platz für dich sein, und du wirst dort viel für dein weiteres Leben lernen.“ „Aber da geht Johnny nicht hin“, nörgelte Jenny nun hörbar. „Nein, natürlich nicht.“ Jetzt war nicht zu überhören, dass Klaus sich langsam aufzuregen begann. Jenny befeuerte dies weiter.

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„Aber ich will bei Johnny bleiben und gehe nur mit ihm zusammen in die Schule.“ Klaus schloss für einen Moment die Augen. Er musste den Impuls unterdrücken, seiner Tochter gegenüber laut zu werden, denn das wäre mit Sicherheit das völlig falsche Signal für sein fast sechsjähriges Mädchen gewesen. So viel jedenfalls war ihm klar. „Jenny, Johnny muss bestimmt etwas anderes lernen als du“, schaltete sich jetzt Nicole ein. „Warum?“ „Weil er etwas anders ist als du.“ „Wie denn?“ „Spezieller“, versuchte es Nicole vorsichtig, doch damit traf sie bei Jenny nur wieder den wunden Punkt. „Aber er muss auf keine Spezialschule. Das hat er mir selbst erzählt“, beharrte sie. Nicole wusste nicht mehr weiter, darum sprang jetzt Klaus mit beherrschter Stimme ein. „Jenny, du kannst doch weiter mit Johnny spielen“, wenn es denn unbedingt sein muss, fügte er in Gedanken hinzu. „Aber die Schule …, das ist etwas anderes“, druckste er herum. Während ihre Eltern eine Reaktion abwarteten zog Jenny einen Schmollmund. „Du wirst in der Schule bestimmt schnell neue Freunde kennen lernen“, versuchte Nicole die offensichtlich schlechte Laune ihrer Tochter zu vertreiben. „Ich brauche keine neuen Freunde“, antwortete sie genervt. „Johnny ist mein Freund!“ „Aber das kann er doch auch weiterhin bleiben“, versuchte Nicole Jenny zu beruhigen. „Aber in die Schule müsst ihr getrennt gehen“, setzte Klaus hinzu. Zunächst ganz langsam, dann immer heftiger schüttelte Jenny den Kopf. „Nein, nein, nein“, rief sie bockig und sprang von der Couch hoch. Entgeistert sahen Klaus und Nicole ihre Tochter an. Sie hatte mittlerweile die Arme vor der Brust verschränkt und während ihres Kopfschüttelns ihren Blick fest auf den Wohnzimmertisch vor sich gerichtet. So eine trotzige Reaktion kannten sie nicht von ihr. „Jenny!“, maßregelte sie Klaus dann endlich mit energischer Stimme, „Johnny ist anders als du, und er braucht eine andere Schule als du.“ Das empörte Jenny nur noch mehr, und ihre Stimme wurde lauter. „Johnny ist nicht anders, und er braucht keine andere Schule. Wir gehen zusammen in die Schule.“ „Stopp!“, rief Klaus laut. „Jetzt ist Schluss! Schrei nicht rum!“ Jenny schmollte daraufhin stumm. „Vielleicht hat sie recht“, meinte Nicole auf einmal nachdenklich. Klaus sah sie fragend an. „Nun, vielleicht kann Johnny ja wirklich auf eine ganz normale Grundschule gehen.“ „Ach, jetzt erzähl doch nicht so einen Blödsinn“, fuhr er seine Frau an, die ihn daraufhin etwas gekränkt ansah. „Es ist doch wohl offensichtlich, dass der Junge geistig behindert ist und auf eine Sonderschule gehört!“ „Johnny ist nicht behindert“, fuhr Jenny dazwischen. Klaus sah resigniert zur Decke. „Was denn sonst?“, fragte er mit bemüht ruhigem Ton. „Besonders.“ „Ja eben“, sagte Klaus mit einem Anflug von triumphalem Klang in seiner Stimme, als er seine Tochter wieder ansah. „Deswegen muss er auf eine besondere Schule.“ „Nein, muss er nicht. Er hat es mir selbst gesagt. Wir gehen zusammen in eine Schule.“ Stumm sahen Klaus und Nicole ihre Tochter eine Weile an. Das Kind ließ sich von ihrem Entschluss, mit dem behinderten Jungen in eine Schule zu gehen, absolut nicht abbringen. Was hatte der Junge nur von seinen Eltern aufgeschnappt und Jenny erzählt, dass die so fest daran glaubte, sie würden zusammen eine herkömmliche Schule besuchen können? Um Jennys eingefahrene Meinung zu verstehen, machte Klaus seiner Frau einen Vorschlag. „Ruf seine Eltern an“, sagte er plötzlich unvermittelt zu Nicole. Die sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Ja, Astrid und Holger“, erklärte er. „Frag die mal, wie die sich so die Zukunft von ihrem Sohn vorstellen, und erzähl ihnen, was für Unruhe ihr Sohn mit diesen merkwürdigen Aussagen in unsere Familie bringt.“ Astrid starrte ihn noch immer mit großen Augen an. „Nun komm“, versuchte Klaus seine Frau von dem Anruf zu überzeugen, „du kannst doch wohl besser mit den beiden reden als ich!“ Nicole erkannte, dass diese Aussage eher eine Vermutung war. Denn viel mehr Kontakt als ihr Mann hatte sie mit den Eltern des behinderten Jungen in den vergangenen Jahren auch nicht gehabt. Allerdings schien Klaus zu spüren, dass sie in diesem Fall kommunikativer sein würde als er. Und sie ahnte, dass ihr Mann nicht lockerlassen würde, ehe die Situation ausgestanden war und alle offenen Fragen geklärt waren. Unsicher erhob sie sich von der Couch und ging ein paar Schritte hinüber zur Wand, an der auf einer Kommode das Mobilteil ihres Festnetztelefons lag. Sie nahm es auf und wählte aus dem elektronischen Telefonbuch den Eintrag von Astrid und Klaus. Gleichwohl sie kaum Kontakt zu den beiden hatte, war ihre Nummer genauso wie die der anderen Eltern in ihrem Telefon abgespeichert. Ein wenig Nervosität konnte sie nicht leugnen. Denn da sie kaum mit den beiden gesprochen hatte, konnte sie auch nicht einschätzen, wie sie auf ihre Frage reagieren würden, was sie mit ihrem Kind vorhätten.