Nebel von Osey - Brigitte Kemptner

Cover Nebel von Osey

Leseprobe
Brigitte Kemptner Nebel von Osey
Fantasy-Roman Paperback,
Format 13,5 x 20cm, 252 Seiten
Originalausgabe September 2021
Edition Paashaas Verlag – www.verlag-epv.de
ISBN: 978-3-96174-093-2 VK: 11,95 € …

Endlich erzählte Ansbert: „Unsere richtige Heimat liegt in Wirklichkeit in einer anderen Welt. In einem Land, das Osej heißt. Dort gibt es zwei Hexen-Völker, die seit Jahren miteinander verfeindet sind. Smela und Sidoc, deren Grenze der Fluss Trey ist. Eines Tages kam eine Hebamme aus Sidoc zu uns nach Smela und brachte einen Säugling mit. Sie tat sehr geheimnisvoll, sagte, das Kind sei ein Sidoc und schwebe in großer Gefahr. Ob wir den Jungen als unser Kind ausgeben könnten, fragte sie. Wir wollten natürlich wissen, wem das Kind gehörte und warum es in Gefahr war, aber die Hebamme machte ein Geheimnis draus. Sie meinte, es sei besser für uns alle, wenn wir es nicht wüssten. So fragten wir nicht weiter. Die Hebamme meinte auch, in diesem Land sei das Baby nicht sicher, wir müssten Osej für immer verlassen. Da wir schon lange auf ein Kind warteten und wir uns auf den ersten Blick in dich verliebt hatten, Alex, willigten wir ein.“ Hier machte Ansbert eine Pause, und Alex, der sich inzwischen hingesetzt hatte, nutzte sie, um mit rauer Stimme zu fragen: „Du willst doch nicht behaupten, dass ihr Hexen seid? So richtig mit Zauberstab und Besen?“ „Doch“, antwortete Agneß. „Auch wenn der alte Hexenbrauch und die Hexenkunst, quasi die ganze Hexerei in den letzten zwei Jahrhunderten immer mehr an Bedeutung verloren hat. Ansbert stammt sogar von einer Magier-Familie ab, nur sind unsere magischen Kräfte und Fähigkeiten, soweit wir noch darüber verfügen oder sie einsetzen, hier in dieser Welt unwirksam.“ Alex lachte hart auf. Das alles sollte wahr sein? Dann wäre er ein Hexer. In einer realen Welt? Harry Potter fiel ihm ein, der Zauberjunge. Aber das war erfundene Literatur. Sehr gute sogar, aber nicht real. „Es ist die Wahrheit“, sagte Ansbert. „Deshalb gibt es keine Bilder von Verwandten, weil die alle in Osej leben. Auf unserer Reise in diese Welt haben wir nichts mitgenommen außer unseren Kleidern. Nicht einmal Geld, denn das von dort hat hier keine Gültigkeit. Wir haben auf der Erde hier in Deutschland ganz unten angefangen.“ „Und wie sind wir überhaupt hierhergekommen? Habt ihr dafür auch eine Erklärung? Eine, die ich endlich mal glauben kann?“ „Ja. Einmal im Monat, bei Vollmond, kommt eine dicke Nebelwand über das Meer und zieht auf die Küste Osejs zu. Nur die weisen Hexen, die im Wald leben, wissen, dass auf der anderen Seite der Nebelwand eine andere Welt existiert. Am Tag nach deiner Geburt war Vollmond. So kam es, dass wir mit dir und einigen Habseligkeiten vom Smelastrand aus durch diesen Nebel in eine ungewisse Zukunft gingen.“ Noch während Ansbert erzählte, formten sich in Alex‘ Kopf bereits Bruchstücke von Bildern zu einem Ganzen.

Brigitte Kemptner

Der Traum, den er schon einige Male gehabt hatte. Er begann zu begreifen. „Und warum sind wir ständig umgezogen?“, fragte er mit rauer Stimme. „Dazu hatte uns die Hebamme geraten, weil man nie wissen kann, ob vielleicht doch alles herauskam oder ob es nicht doch noch jemanden gab, der von dem magischen Nebel wusste. Wir lebten in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Deine Mutter – ähem Agneß – wurde immer nervöser. Wir hatten oft das Gefühl, dass man uns beobachtete. Das musste nicht unbedingt stimmen, die Angst wird es uns vorgegaukelt haben. Aber dann in Berlin hatte ich einige Tage lang den Eindruck, dass mir jemand folgte. Sicherheitshalber brachen wir wiederum unsere Zelte ab.“ Das alles war selbst für einen unerschrockenen Jungen wie Alex zu viel. Er stand so ruckartig auf, dass der Stuhl nach hinten kippte und scheppernd auf den Fliesen landete. In seinem Zimmer warf er sich aufs Bett und ließ noch einmal das Erzählte an sich vorüberziehen. Der Streit Elena blieb nach Alex‘ raschem Abgang noch eine Weile sitzen. Sein übereiltes und in ihren Augen unhöfliches Verschwinden hatte sie schon verletzt. Andererseits musste sie sich ehrlich eingestehen, dass ihre kurze Begegnung nicht ohne Wirkung auf sie geblieben war. Auf eine gewisse Weise fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Sie glaubte, noch immer die Berührung seiner Finger auf ihrem Ellenbogen zu spüren. Nur direkt in die Augen schauen durfte sie ihm nicht. In ihnen lag etwas, dass ihr Angst einflößte. Beim Weggehen musste sie an dem Tisch vorbei, an dem noch immer einer der Männer saß, die Alex so auffallend angestarrt hatten. Als sie am Venezia, ihrer Lieblingseisdiele, ankam, blieb sie stehen und drehte sich, wie von einer fremden Macht getrieben, um. Ihr Blick wanderte zurück zu den Tischen vor dem Café. Sie sah, dass alle unbesetzt waren. Der Fremde musste auch gegangen sein.