Heiter bis frühlingsfeucht - Brigitte Kemptner

Cover Heiter bis frühlingsfeucht

Leseprobe aus Heiter bis frühlingsfeucht Brigitte Kemptner Jahrgang 1952, wurde in einer hessischen Kleinstadt geboren. Aufgrund ihrer angeborenen Sehbehinderung besuchte sie eine Förderschule und arbeitete später als Phonotypistin im Öffentlichen Dienst. Heute lebt sie mit Mann und zwei Töchtern in Brühl bei Mannheim. Brigitte ist naturverbunden, liest gerne, schreibt Gedichte und seit 2002 auch Prosa. Zahlreiche Bücher und Geschichten von ihr wurden bereits veröffentlicht.

Wer schön sein will

Marie schaut bestimmt schon zum fünften Mal an diesem Vormittag aus dem Küchenfenster und zur Hofeinfahrt hinüber. „Das Postauto lässt heute aber wieder lange auf sich warten. Nicht einmal mehr darauf ist Verlass!“, flüstert sie vor sich hin. Leicht verärgert klopft sie fester als beabsichtigt auf die Schnitzel fürs Mittagessen. „Omi, auf wen bist du denn so sauer?“, hört sie neben sich die Stimme ihrer Enkelin. „Auf diese verdammte Post!“, schimpft sie mit ungewohnt lauter Stimme. „Verdammt sagt man aber nicht, Omi.“ „Du hast ja recht, mein Schatz. Geh noch ein wenig in den Garten bis die Mami kommt.“ Liebevoll schaut sie der Kleinen nach, als diese die Küche verlässt. Marie ist sehr aufgeregt, denn das Päckchen mit der Kosmetik für ihre Frühjahrskur will einfach nicht eintreffen. Dabei ist in drei Wochen schon Ostern. Außerdem hat sie Ostermontag ihren 55. Geburtstag. Sie freut sich doch schon so darauf, ihre ganze Familie, die Verwandten und einige ihrer besten Freunde wieder einmal für ein paar Stunden um sich zu haben. Marie, die schon seit Monaten vom Computerfieber befallen ist, surft in jeder freien Minute im Netz herum. Dabei ist sie vor kurzem auf die Webseite eines Kosmetikherstellers gestoßen, der mit einer neuen Serie wirbt, die für wenig Geld Frauen im reifen Alter ein frisches, gesundes, vor allem jugendliches Aussehen verspricht. Und das in nur drei Wochen. Marie, die mit Kosmetik bisher nie viel am Hut hatte, ist sofort Feuer und Flamme gewesen. Mit dem Gedanken, warum soll ich nicht auch mal etwas für mich tun, hat sie sich kurzerhand die Serie bestellt. Während sie die Schnitzel paniert, sie anschließend ins heiße Fett gibt, hört sie im Geist die Stimme ihres Mannes: „Du hast es doch gar nicht nötig, dir diesen Krimskrams ins Gesicht zu schmieren. Du gefällst mir so, wie du bist.“ Aber ich werde es einfach ausprobieren, denkt sie. Diese Frühjahrskur hört sich recht viel versprechend an. Wenn erst das “Wundermittel“ da ist, wird auch Kurt keine Einwände mehr erheben. Ein erneuter Blick aus dem Küchenfenster lässt ihre Stimmung sofort wieder in die Höhe steigen. Das Postauto steht vor dem Tor und da läutet es auch schon an der Haustür. Endlich ist die heißersehnte Kosmetik da. Kurz vor zwölf kommt ihre Tochter von einem Arztbesuch, sie essen zu dritt und als Marie wieder allein ist, packt sie sofort das Päckchen aus. Sogleich vertieft sie sich in die kleine Anleitungsbroschüre, die der Kosmetik beigefügt ist. Anschließend verstaut sie alles in ihrem Badezimmerschränkchen. Ein Blick in den Spiegel zeigt ihr die Fältchen um den Mund herum. Auch auf der Stirn sieht man schon einige. Trotzdem sieht sie nicht wie eine Frau Mitte Fünfzig aus, wenn sie sich mit ihrer Nachbarin vergleicht, die nur wenige Jahre jünger ist, aber wesentlich älter aussieht. Ein Zurück gibt es nicht, Marie will das jetzt durchziehen. Denn schließlich soll ihr Gesicht bis Ostern frisch, jugendlicher und vor allem faltenfrei aussehen. Kurt ist am Abend wirklich nicht sonderlich begeistert, als sie ihm von ihrem Vorhaben berichtet, doch er schüttelt nur mit dem Kopf. „Tu, was du nicht lassen kannst.“ Marie beginnt noch am selben Abend mit einer Entspannungsmaske, die über Nacht auf dem Gesicht verbleibt. Die Haut kribbelt. Sie schläft schlecht, weil sie nur auf dem Rücken liegen kann. Doch was macht man nicht alles für die Schönheit! Am nächsten Morgen ist ihr Gesicht stark gerötet. Sie behandelt es laut Gebrauchsanweisung zuerst mit der Reinigungsmilch. Die scheint ihr gut zu tun. Zum Abschluss der morgendlichen Toilette trägt sie noch die vitaminreiche Tagescreme mit Q10, Retinol und Vitamin C auf. Nach einigen Minuten entspannt sich die Haut, und Marie geht ihrer gewohnten Hausarbeit nach. Wieder Schlafenszeit, reinigt sie ihr Gesicht mit dem etwas eigenartig duftenden Wasser und cremt es zu guter Letzt mit der Nachtcreme ein. Doch in den darauffolgenden Tagen schwillt das Gesicht immer stärker an. Die Haut juckt entsetzlich. Erst auf Kurts ausdrücklichen Befehl hört sie mit der “Behandlung“ auf. Enttäuscht wirft sie alles in die Tonne. Marie traut sich kaum unter die Menschen. In den Spiegel mag sie gar nicht erst schauen. Nein! Dieser Reinfall. Das Osterfest, zu dem sie ihre ganze Familie eingeladen hat, rückt immer näher. So, wie sie jetzt aussieht, kann sie ihren Lieben unmöglich unter die Augen treten. Sie wühlt in ihrem Badezimmerschränkchen und findet eine Pflegecreme, die sie schon öfter bei Hautunreinheiten genommen hat. Irgendwie müssen die Schwellungen doch zurückgehen. „Hättest besser zum Arzt gehen sollen“, meint Kurt, doch sie winkt ab. „Das kann ich immer noch, vielleicht kommt mein Gesicht auch so wieder in Ordnung.“ Marie ärgert sich entsetzlich, dass sie auf diesen Werbeschwindel, wie sie es nennt, hereingefallen ist. Nichts als Geldmacherei. Nie wieder will sie sich auf so etwas einlassen. Jetzt hofft sie allerdings erst einmal, dass die Schwellung zurückgeht, und sie sich wieder im Spiegel betrachten kann. Dabei will sie doch nur jugendlich aussehen, wie es diese Werbung verspricht, aber nicht so aufgedunsen wie jetzt.

Cover Heiter bis frühlingsfeucht

Die nächsten Tage vergehen. Marie fühlt, wie ihr Gesicht allmählich wieder sein früheres Aussehen bekommt. Sie ist überglücklich, als ihr zwei Tage vor Ostern eine vierundfünfzigjährige, noch gutaussehende Frau aus dem Spiegel zulächelt. Kurt tritt zu ihr und küsst sie auf die Wange. „Ich habe dir doch immer gesagt, dass du keine Kosmetik nötig hast, du gefällst mir so, wie du bist.“ Marie lächelt und schweigt. Gut, dass Kurt keine Gedanken lesen kann. Sie überlegt bereits, ob sie sich vielleicht doch noch das zweite Werbeangebot der Kosmetikfirma schicken lassen soll. Aber erst nach der großen Feier. Das Frühjahr ist ja noch nicht vorbei. Heiter bis frühlingsfeucht Kurzgeschichten zum Frühling Hrg. Manuela Klumpjan, insgesamt 28 Autoren

Paperback, Format 14 x 20,5 cm,

240 Seiten März 2022

ISBN: 978-3-96174-102-1

VK: 12,95 € Edition Paashaas Verlag,

www.verlag-epv.de